Wir feiern das Mexikanische Totenfest am 1. und 2. November. Dann füllen sich die Straßen mit Farben, Gerüchen, Essensdüften und mit Kunsthandwerk in Form von Figuren, die den Tod repräsentieren. Wir feiern das Totenfest, weil das der Zeitpunkt ist, an dem unsere Verstorbenen – unsere Freunde, unsere Mütter und Väter, die nicht mehr hier sind – zu uns zurückkommen. Und wir bereiten uns auf diesen Moment vor und überlegen, wie wir sie empfangen wollen. Es ist nur ein kurzer Besuch, nur für eine Nacht, also müssen wir alles, was gebraucht wird, bereithalten: Getränke, Essen, Blumen, Kerzen, auch Geschenke. Und all das stellen wir auf einen Tisch, man könnte sagen: auf einen kleinen Altar: die „Ofrenda“.
Mein Vater zum Beispiel bekommt seinen Tequila, vielleicht auch seine Hibiskuslimonade, und so bekommt jede/r auf der Ofrenda seine Ecke, damit alle kommen und sich mit uns vergnügen. Wir erinnern uns jetzt an all das, was wir mit dieser Person gemeinsam erlebt haben, als sie noch bei uns war. Wir lachen über bestimmte Situationen, die wir zusammen erlebt haben, und diese Erinnerungen helfen uns, den Moment wieder einzufangen. Die Lebenden und die Toten sind jetzt zusammen. Und in dieser Situation bereiten sich auch die Lebenden in gewisser Weise vor auf das, was kommt. Denn irgendwann werden auch sie ihre Ofrenda bekommen. Es ist ein Glaube, auch eine Legende. Man sagt, dass in diesen Tagen die Seelen im Himmel – oder wo immer sie sein mögen – die Erlaubnis bekommen, auf die Erde zurückzukommen, um uns zu besuchen. Aus diesem Grund haben wir zum Beispiel die Totenblume Cempazuchitl. Das ist eine große Blume, die stark duftet. Wir stellen sie auf den Altar – die Ofrenda – aber wir nutzen die Blüten auch, um sie auszustreuen für einen Blumenweg. Der führt zum Altar, auf dem der Verstorbene schon erwartet wird. Er soll die Essenz all dessen, was auf dem Altar steht, mitnehmen. Der Altar, den wir in Mexiko bauen, hat verschiedene Ebenen, die sich in Form einer Pyramide zeigen. Dort hinterlassen die Lebenden ihre Blumen und ihre Erinnerungsstücke. Ein Glas Wasser, Feuer in Form von Kerzen, Wind als Weihrauch, und die Erde, die durch die Blumen repräsentiert wird: das sind die Elemente, die auf unsere Ofrenda gehören. Es gibt auch religiöse Figuren, die bestimmte Fotos begleiten. Meine Mutter zum Beispiel war sehr religiös und hat fest an die Schutzheilige Jungfrau Guadalupe geglaubt. Wenn ich die Ofrenda für meine Mutter gestalte, dann stelle ich ihr Foto auf und daneben kommt natürlich die Jungfrau Guadalupe.
Sehr wichtig ist das Essen, das für die Verstorbene, zubereitet wird und auf die Ofrenda kommt. So zum Beispiel der Tamal. Der Tamal hat prähispanischen Ursprung. Man hat schon damals eine Art Verpackung benutzt: ein Maisteig, gefüllt mit Bohnen oder Fleisch, wurde in Mais- oder Bananenblätter eingewickelt. Das repräsentierte auch gleichzeitig die Art und Weise, wie damals die Toten begraben wurden, nämlich indem man sie eingewickelt hat. Etwas, das auch auf keinen Fall auf der Ofrenda fehlen darf, ist das Totenbrot. Die mexikanischen Bäckereien sind am Totenfest voll davon. Das Totenbrot ist rund und groß und hat kleine Knochen und eine Krone als Verzierung. Es riecht gut und schmeckt nach Anis und Zimt.
Wir denken, dass die Verstorbenen nur die Essenz der Blumen und den Geruch des Kaffees oder der Chilisoße, die wir für sie gekocht haben, mitnehmen. Nur die Essenz. Was übrig bleibt am nächsten oder an einem der darauffolgenden Tage, teilen wir unter den Lebenden. Für unsere Vorfahren gingen Leben und Tod Hand in Hand. Wenn ein Mensch starb, dann war seine weitere Reise davon abhängig, WIE er starb, und nicht, wie er sich zu Lebzeiten auf Erden benommen hat. Die meisten Menschen gingen nach Mictlán, weil sie an einer Krankheit oder eines natürlichen Todes gestorben waren. Aber andere, z.B. Krieger oder Frauen, die während der Geburt eines Kindes starben, gingen nicht nach Mictlán, sondern ins Paradies der Sonne – ein sehr wichtiges Paradies. Die meisten aber nahmen ihren Weg nach Mictlán, wobei die Seelen eine lange Reise erwartete. Sie mussten sieben Unterwelten überwinden und wurden von einem Nackthund dabei unterstützt. Dieser Hund half reißende Flüsse zu überqueren und führte die Seelen über Berge, die gegeneinander stürzten. Durch eisige Regionen, in denen es immer schneite und der Wind blies und wo Jaguare sich auf die Seelen stürzten, um ihr Herz zu verschlingen.
An den eigentlichen Festtagen, am 1. und 2. November, füllen sich in Mexiko die Friedhöfe mit Menschen, es kommen Familien von überall her mit Blumen, mit Kerzen und wer ein bisschen Geld übrig hat, kann eine Band einladen, damit sie vor dem Grab spielt oder es holt einfach jemand seine Gitarre raus und spielt vor dem Grab ein Lied, das die Erinnerung an den Verstorbenen weckt. Und das kann vom Vormittag bis zum nächsten Morgengrauen gehen.“
Mario Vázquez